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Neurowissenschaften Können Sie das bitte abstellen?

Geräusche im Alltag können stören, auch wenn sie leise sind. Ob sie uns nur ­lästig sind oder stark ­belasten, ist individuell ­unter­schiedlich. Doch wie erforscht man sowas?

von Dr. Daniel Hölle

Ich sitze mal wieder im Zug, versuche die Zeit sinnvoll zu nutzen und schreibe diesen Text. Doch da ist es wieder – dieses Geräusch, dieses Klicken. Auf der Suche nach der Ursache sehe ich, wie ein Herr auf seinem Smartphone herumtippt. Mit aktivierten Tasten­tönen. Ich höre jede einzelne seiner Tasten­­eingaben – und das nervt und lenkt mich ab. Als ich mich bei meiner Freundin neben mir über die Tipp­geräusche beschwere, fragt sie erstaunt: „Welche Tipp­geräusche?“ „Von diesem Typen da!“, antworte ich leise. „Ach komm, die stören doch nicht“, winkt sie ab. Ich fühle mich nicht verstanden, zwischen uns entwickelt sich eine Diskussion. Das Fazit am Ende: Wir können uns gegen­seitig nicht in den Kopf schauen. Oder etwa doch?

Für die meisten von uns sind laute Geräusche, also Lärm, auf Dauer nervig und anstrengend. Deshalb gibt es gesetzliche Vorgaben, wann etwas wie laut sein darf. Bei leiseren Geräuschen jedoch kommt es sehr auf die individuelle Wahr­nehmung an. Sie ist so individuell, dass manche Personen ein Geräusch, das andere stört, gar nicht hören. Doch genau wie „lauter“ Lärm ist auch dieser „leise“ Lärm für die betroffenen Personen ein ernstes Problem. Lärm kann Stress auslösen und sich negativ auf die Gesundheit auswirken, zum Beispiel in Form von Schlaf­störungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Je geräusch­sensibler eine Person ist, desto höher kann der Leidens­druck sein.

Was im Gehirn geräusch­sensibler Menschen passiert, ist bisher kaum untersucht. Gewiss ist: Es gibt einen Mechanismus im Gehirn, der sich sensorisches Gating nennt. Dieser filtert wieder­kehrende, unwichtige Geräusche heraus. Deshalb kann ich gerade das Fahr­geräusch des Zuges so gut ausblenden. Bei geräusch­sensiblen Menschen könnte dieses Gating weniger ausgeprägt sein, dann über­winden mehr Geräusche die Wahr­nehmungs­schwelle. In dem Fall steigt die Zahl der Geräusche, die potenziell stören können.

Es gibt noch einen weiteren möglichen Mechanismus. Demnach stuft das Gehirn von geräusch­sensiblen Menschen deutlich mehr Geräusche in der Umgebung als relevant ein. Ein als relevant eingestuftes Geräusch zieht die Aufmerksamkeit auf sich und lenkt somit ab. Beide Mechanismen können auch interagieren: Wenn mehr Geräusche durchkommen, können auch mehr Geräusche als relevant eingestuft werden.

Bevor wir solche Mechanismen im Gehirn erforschen können, stehen wir vor der großen Heraus­forderung, die Gehirn­aktivität im Alltag überhaupt messbar zu machen. Das war das Ziel unserer Forschungen.

Die Geräuschwahrnehmung im Gehirn findet im Milli­sekunden­bereich statt – sie lässt sich mithilfe der Elektro­enzephalo­grafie (EEG) messen. Hierfür tragen Proband:innen eine Kappe, in der Elektroden ein­gelassen sind. Die meisten EEG-Studien finden im Labor unter streng kontrollierten Bedingungen statt. Versuchs­teilnehmende sitzen in einem isolierten Raum, ein Verstärker macht die schwachen Signale im Gehirn sichtbar. In der Regel sollen die Studien­teil­nehmenden sich so wenig wie möglich bewegen und eine genau bestimmte Aufgabe erfüllen. Denn jede Bewegung, jedes Augen­blinzeln erzeugt ein elektrisches Störsignal, das vom EEG zusätzlich zur Hirn­aktivität aufgezeichnet wird. Im Alltag haben wir solche sterilen Bedingungen natürlich nicht. Wir wissen nicht einmal, wann oder wie viele Geräusche auftauchen.

Mit Ohr-EEG, Nacken­lautsprecher und Smartphone am Arm erforscht Daniel Hölle die Wirkung leiser Geräusche auf die Hirnaktivität
©Annette Mueck
Mit Ohr-EEG, Nacken­lautsprecher und Smartphone am Arm erforscht Daniel Hölle die Wirkung leiser Geräusche auf die Hirnaktivität

Um unsere Experimente alltagstauglich zu machen, musste die technische Ausrüstung viel kompakter sein. Den PC ersetzten wir durch ein Smartphone; den schweren EEG-Verstärker durch ein kompaktes Modell in der Größe einer Streich­holz­schachtel. Anstelle der sperrigen EEG-Kappe kam ein Ohr-EEG zum Einsatz, bei dem die Elektroden hinter oder um das Ohr angebracht werden. In unserem Fall ist das ein c-förmiger Elektroden­streifen, der hinter das Ohr geklebt wird und kaum mehr sichtbar ist. Im Gegen­satz zu einer EEG-Kappe ist das Ohr-EEG auch über mehrere Stunden Tragedauer hinweg bequem. Durch die Nähe zum auditorischen Kortex hinter dem Ohr, also dem Hörzentrum im Gehirn, lässt sich mit dem Ohr-EEG optimal messen, wie Geräusche verarbeitet werden.

Jetzt fehlten nur noch die Geräusche. Dabei inspirierte uns das unter Labor­bedingungen vielfach bewährte „Oddball-Experiment“. Dabei werden Piepstöne schnell nach­einander abgespielt. Sie bestehen aus einem häufigen Standard-Ton und einem seltenen Oddball-Ton, der sich meist in der Tonhöhe vom Standard-Ton unterscheidet. Die Teilnehmenden müssen den Oddball-Ton zählen oder auf ihn reagieren. Um die Teilnehmenden bei unserer Aufnahme über mehrere Stunden nicht in den Wahnsinn zu treiben, präsentierten wir ihnen nur einen Ton pro Minute. Bei jedem Oddball-Ton ­mussten die Teilnehmenden dann das Display des Smartphones berühren.

Zunächst testeten wir, ob sich mit dem Ohr-EEG überhaupt zuverlässig Hirnaktivität im Alltag aufzeichnen lässt. Ein am Hals angebrachter Kopfhörer spielte die Töne ab. An diesem Kopfhörer befestigten wir den kompakten Verstärker des Ohr-EEGs. Mit diesem provisorischen Aufbau zeichneten wir für sechs Stunden die Hirnaktivität der Teilnehmenden auf, während diese ihrer alltäglichen Büro­arbeit nachgingen. Dabei gab es kaum Einschränkungen: Die Teilnehmenden durften sich normal bewegen, zum Mittagessen gehen oder sich mit Kolleg:innen unter­halten. Das gab es in der Hirnforschung so noch nie – und war am Ende auch erfolg­reich. Trotz dieser Freiheiten und den damit einhergehenden Stör­signalen konnten wir die Daten bereinigen und die erwartete Hirn­aktivität identifizieren.

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Im nächsten Schritt ging es darum, die standardisierten Piepstöne durch Alltags­geräusche zu ersetzen. Dazu entwickelten wir eine App, die Alltags­geräusche aufzeichnet und mit der Hirn­aktivität synchronisiert. Um die Privat­sphäre der Teilnehmenden zu schützen, wurden dabei die Geräusche so codiert, dass wir nur wussten, dass es ein Geräusch gab, aber nicht, welches genau.

Mit der App und weiteren technischen Verbesserungen wie einem Nacken­laut­sprecher statt Kopfhörern am Hals wiederholten wir die erste Studie mit ein paar Anpassungen. Die App zeichnete Alltags­geräusche auf, und die Teilnehmenden bekamen hin und wieder Töne vorgespielt, auf die sie aber nicht mehr reagieren mussten. Dadurch machten wir zum einen die Alltags­geräusche zum Teil unseres „Labors“ und spielten zum anderen weiterhin kontrolliert Töne ab. Leider konnten wir trotz verschiedener Analysen kaum Erkenntnisse aus den Alltags­geräuschen gewinnen. Wir wussten zu wenig über die Geräusche. Kamen sie aus der Umgebung, oder wurden sie von den Teilnehmenden selbst verursacht? Dennoch haben wir einiges über die Schwächen unserer Vorgehens­weise gelernt und konnten mit den Piepstönen die Ergebnisse der ersten Studie bestätigen.

Damit kommen wir unserem Ziel, die individuelle Geräusch­wahrnehmung und damit auch die indivi­duelle Belastung besser zu verstehen, Schritt für Schritt näher. So könnten wir eines Tages Strategien entwickeln, die geräusch­sensiblen Personen beim Umgang mit Geräusch­belastung helfen. Das kann zum Beispiel ein Entspannungs- oder Achtsamkeits­training sein, um den Stress zu reduzieren. Alternativ könnten spezielle Kopfhörer helfen, die etwa über ein Noise-Cancelling verfügen.

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Große leise Probleme

Für die einen sind es banale Alltagsgeräusche, für die anderen eine Qual

Die Wikipedialiste von Phobien enthält über hundert Einträge. Dazu gehört die Angst vor großen Menschen­mengen oder Hunden genauso dazu wie die vor Schnee und Clowns. Alle Ängste eint, dass sie ernst zu nehmen sind und Betroffene darunter nicht selten ein Leben lang leiden.

Auch die Phonophobie gehört dazu: die Angst vor bestimmten Geräuschen. Natürlich ist jede:r genervt, wenn sie:er bei konzentrierter Arbeit ständig von Sirenenlärm oder hupenden Autos aufgeschreckt wird. Doch damit haben die meisten von uns noch keinen Einblick in die Nöte von Phono­phobiker:innen, die in solchen Situationen nicht selten von Erbrechen, ­Panikattacken, ja sogar Ohnmacht heimgesucht werden.

Dabei muss es gar nicht laut zugehen. Menschen mit einer Misophonie leiden unter Geräuschen, die andere allenfalls lästig finden: ein tropfender Wasserhahn, das Kauen von Kaugummi, Atemgeräusche, das Klicken eines Kugelschreibers. Diese „Trigger“ lösen dann heftige Gefühle aus – Wut, Ekel, Ärger, Angst. Die psychische Belastung ist groß, wehren können sich Betroffene dagegen nicht.

Die Ursachen der Misophonie liegen weit­gehend im Dunkeln. Sicher ist, das dabei akustische Reize im Zentral­nervensystem falsch interpretiert werden. In manchen Fällen erlebten die Betroffenen in der Kindheit negative oder traumatisierende Situationen, in deren Folge im Gehirn eine Verknüpfung des Geräusches mit dem schlechten Gefühl erfolgte.

Die Misophonie ist unheilbar. Aber man kann lernen, mit ihr zu leben. So können Ärzt:innen Betroffenen helfen, besser mit ihren Reaktionen auf die Trigger umzugehen. Und zwar mit dem Ziel, triggernde Geräusche anders zu inter­pretieren – etwa, indem die Betroffenen negative Erinnerungen durch positive Gefühle ersetzen. — J. Schüring

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