Physik Galaktisches Karussell
Galaxien wie die Milchstraße sind von kleinen, nur schwer zu beobachtenden Zwerggalaxien umgeben. Die verhalten sich offenbar völlig anders als erwartet – und könnten sogar das kosmologische Standardmodell ins Wanken bringen
Seit dem Urknall vor knapp 14 Milliarden Jahren brachte unser Universum Milliarden von Galaxien hervor, von gigantischen Spiralgalaxien, wie unsere Milchstraße eine ist, bis hin zu winzigen, eher unscheinbaren Zwerggalaxien. Diese Zwerge leuchten so schwach, dass sie durch die Erdatmosphäre hindurch nur schwer zu beobachten sind. Dennoch stellen sie den häufigsten Galaxientyp – und sind deshalb überaus wertvolle Studienobjekte.
Besondere Aufmerksamkeit wird ihnen jedoch zuteil, seit sich herausstellte, dass sie so stark wie kein anderer Galaxientyp durch die sogenannte Dunkle Materie beeinflusst werden. Dabei handelt es sich um geheimnisvolle Materie, die sich einerseits gravitationell wie die normale, sicht- und anfassbare Materie verhält, andererseits aber unsichtbar ist. Rund 80 Prozent des Universums bestehen aus dieser Dunklen Materie, die sich nur anhand ihrer Anziehungskräfte offenbart.
Dass diese Zwerggalaxien etwas Besonderes sind, zeigt sich in verschiedenen Abweichungen vom Standardmodell der Kosmologie, das die Entstehung und Entwicklung des Universums seit dem Urknall beschreibt. Dieses geht nämlich unter anderem davon aus, dass jede große Galaxie von einer kugelförmigen Wolke aus Dunkler Materie umgeben ist, dem sogenannten Halo. Um die Langzeitwirkungen der Dunklen Materie zu studieren, benutzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rechenstarke Supercomputer, die, gefüttert mit den Anfangsbedingungen des Universums, ihre Entwicklung über Milliarden Jahre berechnen. Am Ende dieser Simulationen verfügen große Galaxien stets über Hunderte von Zwerggalaxien, die sie wie ein Schwarm Bienen umschwirren.
Das gilt auch für die Milchstraße – nur kennen wir aufgrund ihrer schlechten Sichtbarkeit bisher gerade einmal eine Handvoll dieser kleinen Galaxien. Und die sind seltsamerweise ganz anders verteilt, als es die Simulationen vorhersagen. Im Halo der Milchstraße, wo eigentlich ein schwarmähnliches Durcheinander herrschen sollte, finden wir Ordnung: Die Zwerggalaxien kreisen nämlich auf gleichen Bahnen und in gleichem Drehsinn um die Milchstraße herum – so wie die Planeten unseres Sonnensystems um das Heimatgestirn. Die Häufigkeit, dass die Computersimulationen eine solche Konstellation ergeben, liegt bei weit unter einem Prozent. Da fragt man sich natürlich zunächst einmal, ob und was in diesen Computermodellen grundlegend falsch läuft.
Die Milchstraße sei eben ein statistischer Ausreißer – dies war lange Zeit Konsens im Forschungsbetrieb. Doch als ein Team um Rodrigo Ibata von der Université de Strasbourg 2013 herausfand, dass sich auch die Zwerggalaxien unserer Nachbargalaxie – dem „Andromedanebel“ – perfekt in eine rotierende Ebene einordnen, wurde aus „Einmal ist keinmal“ plötzlich „Zweimal ist keinmal“. Doch weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde kurzerhand unsere gesamte Lokale Gruppe, die aus Milchstraße, Andromedagalaxie und weiteren kleineren Galaxien besteht, zu einer Laune der Natur deklariert.
Doch Bruno Binggeli von der Universität Basel, Helmut Jerjen von der Australian National University und mir war dieser „Zufall“ suspekt, und so machten wir uns auf die Suche nach Zwerggalaxien außerhalb unserer Lokalen Gruppe. Dafür benutzten wir die Dark Energy Camera an einem 4-Meter-Teleskop des Cerro Tololo Inter-American Observatory in Chile. Unser Ziel: Centaurus A, eine elliptische Galaxie, die etwa fünfmal so massereich ist wie die Milchstraße. Sie ist ihr nächster Nachbar und am Südhimmel zu sehen.
Weil die Zwerggalaxien so extrem schwach leuchten, war eine Bildanalyse mithilfe des Computers fast unmöglich. Sie führte zu Tausenden von falschen Detektionen. Für neuronale Netzwerke, wie sie sonst gerne in der Bilderkennung angewendet werden, fehlten uns hingegen die dafür notwendigen Trainingsdaten. Deshalb entschieden wir uns für das offenbar geeignetste Instrument überhaupt: unsere Augen. Selbst unauffällige und leuchtschwache Objekte können wir im verrauschten digitalen Abbild des Nachthimmels besser entdecken als jedes Computerprogramm. Lediglich spezielle Bildbearbeitungsfilter, wie sie in jedem Bildbearbeitungsprogramm zu finden sind, halfen uns, die Objekte schärfer zu zeigen und manch Unsichtbares sichtbar zu machen. Am Ende entdeckten wir 60 neue Zwerggalaxien und verdoppelten damit die Anzahl der bekannten Zwerge um Centaurus A.
Zeitgleich fand ein Team um Brent Tully vom Institute for Astronomy in Hawaii heraus, dass sich auch die bereits bekannten Zwerggalaxien um Centaurus A in einer relativ flachen Struktur aufhalten.
Weil wir von der Erde aus genau auf die Kante dieser Zwerggalaxienebene schauen, konnten wir die Bewegungen der Zwerge recht einfach untersuchen. Das Ganze gleicht einem Kinderkarussell auf dem Jahrmarkt: Wenn wir davorstehen, sehen wir, wie sich die Kinder auf der einen Seite von uns weg und auf der anderen Seite auf uns zu bewegen. Bei 16 der bekannten Zwerge um Centaurus A hatten wir es leicht, zu ihnen gab es in der Literatur bereits Geschwindigkeitsmessungen. Und tatsächlich: Im Norden von Centaurus A entfernen sich die Zwerge von uns, im Süden bewegen sie sich auf uns zu – wie bei einem galaktischen Karussell.
Somit konnten wir nachweisen, dass die Zwerggalaxien nicht nur die Milchstraße und den Andromedanebel, sondern auch Centaurus A in geordneter Bahn umkreisen. Dies ist also bereits das dritte System von bisher drei untersuchten Galaxien, das dem Standardmodell der Kosmologie widerspricht. Dreimal ist keinmal? Das ist kaum zu glauben, zumal Marcel Pawlowski vom Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam auch im Fall von Centaurus A errechnete, dass die Wahrscheinlichkeit für eine solche Kreisebene bei weniger als einem Prozent liegt.
So wie es aussieht, klaffen die Simulationen des kosmologischen Standardmodells und unsere Beobachtungen deutlich auseinander. Die Gründe dafür können sein: Erstens, unsere Beobachtungen sind trotz der statistischen Datenlage eine Laune der Natur, und wir haben rein zufällig nur jene Zwerggalaxien beobachtet, die alle auf einer Ebene um das zentrale Sternsystem kreisen. Zweitens, das zugrundeliegende theoretische Modell zur Entwicklung der Dunklen Materie ist zwar korrekt, aber die entsprechenden Simulationen im Computer sind falsch umgesetzt oder noch nicht ausgereift genug, um unsere Galaxiensysteme zu beschreiben.
Drittens – und das wäre in der Tat spektakulär –, das theoretische Modell der Dunklen Materie ist falsch. Und das hieße, dass das Standardmodell der Kosmologie, das auf den Gravitationsgesetzen von Albert Einstein basiert – also seiner Allgemeinen Relativitätstheorie – das Universum nicht angemessen beschreiben kann.
Doch bevor wir zu diesem Schluss kommen, müssen wir systematisch weitere Galaxiensysteme beobachten und vermessen. Entscheidend ist dabei die Frage, ob sich unsere jetzigen Ergebnisse mit neuen Beobachtungen statistisch absichern lassen. Denkbar ist auch, dass die Gravitationstheorie derart modifiziert wird, dass sie ohne die Dunkle Materie auskommt. Solche Modelle gibt es bereits, auch lassen sich mit ihnen Bewegung und Verteilung unserer Zwerggalaxien beschreiben, jedoch stolpern sie über andere fundamentale Probleme
Im Dunkeln tappen
Manche Astrophysiker bezweifeln die Existenz der Dunklen Materie
Isaac Newton hat damit angefangen. Er formulierte 1686 das Gravitationsgesetz und erklärte damit als Erster die Schwerkraft auf der Erde sowie die Bewegungen der Planeten um die Sonne. Bei genauer Betrachtung beschreibt es die Verhältnisse im Weltall aber eben doch nicht exakt. Erst 1915 konnte Albert Einstein die kleinen Abweichungen in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie erklären.
Doch dann beobachteten Astronomen in den 1930er-Jahren, dass sich auch Sterne in Galaxien und Galaxien in Galaxienhaufen schneller bewegen, als Einsteins Theorie zulässt. Der Schweizer Astronom Fritz Zwicky (1898 – 1974) postulierte daher die Existenz „Dunkler Materie“. Diese verhalte sich wie ganz normale Materie auch, sei aber unsichtbar – weshalb sie bis heute immer nur indirekt nachgewiesen werden konnte. Und zwar durch ihre Schwerkraft, mit der sie die sichtbaren Sterne und Galaxien beeinflusst.
Woraus sie besteht, weiß jedoch niemand; viele Physiker vermuten subatomare Teilchen dahinter, die heute noch niemand kennt. Wenngleich sich die Verhältnisse im Universum mit der Dunklen Materie recht gut beschreiben lassen, ist ihre notorische Unsichtbarkeit ein Ärgernis: Gibt es sie wirklich, sind 80 Prozent des Weltalls unsichtbar. Mordehai Milgrom vom israelischen Weizmann Institute of Science stellte daher 1983 seine Theorie der Modifizierten Newtonschen Dynamik (MOND) vor. Sie kommt ohne die Dunkle Materie aus und sagt im Kern, dass die Wirkung der Anziehungskraft zwischen zwei Körpern nicht mit dem Abstand im Quadrat abnimmt, sondern bei extrem kleinen Beschleunigungen sogar verstärkt wird – ein Effekt, der nur in galaktischen Größenordnungen eine gewisse, aber eben entscheidende Rolle spielt.
Auch wenn die MOND-Theorie Schwächen zeigt, befassen sich seit einigen Jahren immer mehr Forschende mit ihr, modifizieren sie und – wer weiß – belehren vielleicht eines Tages Isaac Newton und Albert Einstein eines Besseren.
Von Joachim Schüring