Nies-Aerosole
©Xavi Olmos/Getty Images

Den Kräften des Niesens trotzen

Wie Kletten haften Coronaviren in den Atem­wegen. Mit einer neuartigen Mess­methode lassen sich ihre Bindungs­kräfte messen. Die Daten geben Aufschluss über das infektiöse Potenzial neuer ­­Varianten, noch bevor sie sich verbreiten

von Dr. Sophia Gruber

Es kitzelt kurz in der Nase, und schon schießt ein starker Luftstrom explosions­artig aus den oberen Atem­wegen. Mit über 100 Kilometern pro Stunde reißt er beim Niesen oder Husten krank­machende Keime mit sich und schützt uns auf diese Weise vor einer Infektion. Einige Viren und Bakterien wider­stehen jedoch den hohen Kräften und bleiben an den Schleim­häuten haften. Eine Fähigkeit, die laut unserer These zu ihrer Infektiosität beiträgt. Wer also die Haftkraft eines Erregers wie des Corona­virus kennt, kann womöglich einen Beitrag zur präziseren Vorhersage des Infektions­geschehens leisten.

Das Virus sitzt also im Rachen der oder des Hustenden und will dort Zellen infizieren. Hierfür muss es sich zunächst an eine Zelle anheften und sein Erbgut einschleusen. Dabei ist der Erreger permanent mechanischen Kräften ausgesetzt: Der Mensch niest und hustet. Dies erzeugt heftige Luft­ströme, die an dem Virus zerren – in vielen Fällen so sehr, dass es von der Zelle abgelöst und heraus­geschleudert wird, bevor es diese infizieren kann. Das gilt auch für Corona­viren. Ob sie erfolg­reich eine Infektion starten, könnte also auch davon abhängen, wie gut sie sich festhalten.

Im Rahmen meiner Arbeit entwickelte ich eine Technik, um genau diese Kraft zu bestimmen, ab welcher Corona­viren den Halt an menschlichen Zellen verlieren. Hierfür verwendete ich eine sogenannte magnetische Pinzette – ein Instrument, mit dem man auf mikroskopischem Maßstab präzise Kräfte ausüben kann. Makroskopisch kann man sich diese Technik vereinfacht so vorstellen: Auf dem Tisch liegt eine Eisen­kugel, die über einen Faden mit der Platte verbunden ist. Führen wir von oben einen Magneten in Richtung der Kugel, wird diese angehoben – der Faden spannt sich. Durch Heben und Senken des Magneten kann man die Kraft auf den Faden variieren. In unserem Experiment können wir Kräfte von weniger als einem Billionstel Newton ausüben. Das entspricht ungefähr der Kraft, die ein Mensch aufbringen müsste, wenn die gesamte Erd­bevölkerung die Last eines einzelnen Klo­papier­blattes hielte.

Bevor Sophia Gruber die magnetische Pinzette in Betrieb nimmt, baut sie den Magneten ein. Anschließend kann sie auf molekularer Ebene winzige Kräfte anlegen
©KTS/Annette Mueck
Bevor Sophia Gruber die magnetische Pinzette in Betrieb nimmt, baut sie den Magneten ein. Anschließend kann sie auf molekularer Ebene winzige Kräfte anlegen

In unserem Labor verwenden wir magnetische Pinzetten, um die Auswirkungen von Kräften auf Proteine zu unter­suchen. Der Faden im oben beschriebenen Modell entspricht dabei Protein­ketten. Da wir die Bindungs­kraft des Corona­virus bestimmen wollen, besteht diese Kette in dem hier beschriebenen Fall insbesondere aus zwei Gliedern: dem „Schloss­protein”, das sich auf der Außen­seite menschlicher Zellen befindet und es dem Virus ermöglicht, sich dort anzudocken. Und aus dem „Schlüssel­protein”, das auf der Spitze der Corona­virus­stacheln sitzt und an das Schloss­protein binden kann.

In unserem Experiment befestigen wir das Schloss­protein an einer Ober­fläche und das Schlüssel­protein an einer mikroskopisch kleinen Metall­kugel. Mit der magnetischen Pinzette üben wir nun Kräfte aus. Ist die Kraft klein, sind beide Proteine miteinander verbunden. Erhöhen wir die Kraft, ziehen wir den Schlüssel langsam aus dem Schloss. Die Verbindung zwischen Schlüssel- und Schloss­protein können wir uns als dünnste Stelle des Fadens vorstellen. Wird die Kraft zu hoch, reißt der Faden an dieser Stelle. Den Abriss unserer beiden Proteine können wir durch ein Mikroskop beobachten, da sich die Metall­kugel in diesem Moment schnell von der Ober­fläche entfernt. Indem wir den Abstand zwischen Metall­kugel und Magnet präzise bestimmen, wissen wir, bei welcher Kraft der Faden ­gerissen ist – oder sich das Virus von der Zelle löst.

Ist der Faden einmal gerissen, ist das Experiment beendet. Um unsere Mess­ergebnisse zu verfeinern, sind wir jedoch daran interessiert, die Schlüssel-Schloss-Protein­verbindung mehrfach hinter­einander zu vermessen. Dafür ließen wir uns von Surfer:innen inspirieren: Sie tragen am Fußgelenk eine „Leash”, eine Sicherungs­leine, die sie mit ihrem Brett verbindet und beim Sturz das Wegschwimmen verhindert. Nach diesem Vorbild verbinden wir Schlüssel- und Schloss­protein mit einer molekularen Leash, die nach dem Heraus­ziehen bei hohen Kräften verhindert, dass sich Schlüssel und Schloss weit voneinander entfernen. Sobald wir die Kraft verringern, können die Bindungs­partner wieder zueinander finden. Nun können wir unser Experiment beliebig häufig wieder­holen.

Mit magnetischer Pinzette und molekularer Leash untersuchten wir so zu Beginn der Pandemie die Bindungs­kräfte des Coronavirus. Wir verglichen das ursprüngliche Virus, den Wildtyp, dieser Pandemie (SARS-CoV-2) mit dem SARS-Coronavirus, das eine Epidemie in Asien im Jahr 2002/2003 ausgelöst hatte (SARS-CoV). Dabei fanden wir heraus, dass das neue Coronavirus signifikant stärker an menschlichen Zellen haftet. Dies trägt dazu bei, dass SARS-CoV-2 im Gegensatz zu SARS-CoV gerade die oberen Atem­wege befallen kann. Dort wirken viel höhere Kräfte als in den Tiefen der Lunge. SARS-CoV-2 muss demnach gar nicht so tief in Atem­wege eindringen, um Zellen zu infizieren. Das kann einer der Gründe sein, weswegen SARS-CoV-2 infektiöser ist und nicht nur eine regionale Epidemie auslöste, sondern eine welt­weite Pandemie.

Das Schlüsselprotein des SARS-CoV ähnelt dem des SARS-CoV-2 zwar in Struktur und Form, unter­scheidet sich aber in einigen Bausteinen. Das ist so, als ob SARS-CoV einen bereits abgenutzten Schlüssel nutzt, der eher lose ins Schloss passt, während SARS-CoV-2 über einen neuen, nahezu perfekten Schlüssel verfügt. Das könnte den Unterschied in der Stabilität ihrer Bindung erklären.

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Anders verhält es sich mit den Varianten von SARS-CoV-2, die nach ungefähr einem Jahr auftauchten. Diese unter­scheiden sich vom ursprünglichen Virus nur durch punktuelle Mutationen einiger weniger Bausteine. Trotzdem sind die Varianten teils bedeutend ansteckender als der Wildtyp. Wir bauten daher die Schlüssel der Alpha-, Beta-, Gamma- und Delta­variante im Labor nach und verglichen ihre Bindungs­eigenschaften. Tatsächlich zeigte sich, dass die Bindung der Alpha­variante deutlich höheren Kräften widerstehen kann als die des Wildtyps und aller anderen Varianten.

Virolog:innen wie Christian Drosten von der Berliner Charité beschrieben, dass die Alpha­variante einen Fitness­vorteil gegen­über dem Wildtyp besitzt und dadurch Menschen effektiver infizieren kann. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Fähigkeit, höheren Kräften zu widerstehen, einer der Faktoren ist, die zu einem Fitnessvorteil führen. Allen anderen Varianten wird dagegen ein „Immun-Escape”-Vorteil zugeschrieben. Dieser beschreibt die Fähigkeit, die Antwort des menschlichen Immun­systems zu um­gehen. Das hat nichts mit der Bindungs­kraft des Virus an die Zelle zu tun und erklärt, weswegen auch bei niedriger Kraftstabilität eine erhöhte Infektiosität auftreten kann.

Während Forschende zu Beginn der Pandemie vor allem die Eigenschaften des Virus verstehen wollten, geht es heute immer mehr darum, das Virus­geschehen möglichst genau vorher­zu­sagen. So versuchen Forschende anhand von Computer­simulationen die Baupläne der in Zukunft auftretenden Virus­varianten zu prognostizieren. Ihre Prognosen können wir verwenden, um das Schlüssel­protein im Labor nach­zu­bilden. So wüssten wir etwas über ihr Bindungs­verhalten, lange bevor die Varianten exis­tieren, und könnten dazu beitragen, Fitness­vorteile im Voraus abzuschätzen.

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Magnetische Pinzetten können Erstaunliches – und sind preiswert

Ein Billionstel Newton ist eine kleine Kraft. Unvorstellbar klein – das hat unsere Autorin mit ihrem Vergleich wirklich anschaulich beschrieben. In ihrem Versuch heftete sie ein magnetisches Kügelchen an das Schlüssel­protein eines Corona­virus und zog dann – mithilfe von Magneten – an diesem Kügelchen. Sobald die Verbindung reißt, macht das Kügelchen einen Sprung. Den sieht man im Mikroskop. Wer solche auf molekularer Ebene wirkenden Kräfte messen will, benötigt wohl unglaublich komplizierte und teure Gerätschaften. Oder?

Nun, eine magnetische Pinzette ist überraschend simpel aufgebaut. Sie besteht im Wesentlichen aus einem normalen Licht­mikroskop, zwei oder mehr beweglichen Magneten, einem Verschiebe­tisch, einer Durch­fluss­zelle, einer Beleuchtung und einer Kamera. Solche magnetischen Pinzetten gibt es schon für rund 15.000 Euro. Im Vergleich zu den meisten anderen Labor­geräten ist das sehr, sehr preiswert – weshalb sie sich bei Bio­physiker:innen und Molekular­biolog:innen wachsender Beliebtheit erfreuen.

Beispiel DNA. Das Erbgut findet sich, fein gewickelt, in jeder menschlichen Zelle – entrollt wäre der Strang jeweils rund zwei Meter lang. Das Erbgut steht im Mittel­punkt komplexer Wechsel­wirkungen mit Proteinen. Es wird ausgelesen, kopiert und gegebenen­falls repariert. Dabei wird das DNA-Knäuel mechanisch beansprucht, gespannt und gedreht. Mit einer magnetischen Pinzette lassen sich die dabei wirkenden Kräfte und Dreh­momente präzise messen. Diese mechanischen Eigenschaften geben Aufschluss über fundamentale Prozesse und Wechsel­­wirkungen. Etwa wenn es um die Reparatur beschädigter DNA-Bereiche geht. Kommt es nämlich dabei zu Fehlern, können schwere Erkrankungen wie Krebs die Folge sein.
— JS

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