Mathematik Die reine Mathematik
Wenn unsere Autorin gefragt wird, was sie in ihrer Doktorarbeit gemacht hat, greift sie gern zu Analogien. Denn sie beschäftigt sich mit der mathematischen Beschreibung von „Chirotopen“ und „Phirotopen“ – das sind Abstraktionen relativer Ortsangaben
Stellen Sie sich vor, wir treffen uns zusammen mit Freunden auf eine Tasse Cappuccino. Ihre Freundin Regina sitzt rechts von Ihnen, meine Freunde Leo und Hannah haben links von Ihnen Platz genommen. Jetzt haben Sie fast, aber nicht alle Informationen, um die Sitzordnung genau zu bestimmen. Ich müsste Ihnen noch verraten, ob sich Hannah von sich selbst aus gesehen links oder rechts von Leo befindet.
Die Abstraktion solcher Ortsangaben – in diesem Fall der Sitzordnung – nennt man in der Mathematik ein „Chirotop“. Ein Chirotop enthält relative Lageinformationen von Punkten – aber eben keine absoluten Positionen. Wenn etwa Regina mit ihrem Stuhl nach hinten rückt, ändert sich am Chirotop gar nichts.
Ein Chirotop leitet sich nicht immer aus vorher bekannten Punktkonfigurationen ab. Manchmal hat man nur die abstrakten Links-/Rechtsbeziehungen gegeben und möchte dazu passende Positionen von Punkten rekonstruieren. Das wäre, als würde man vor dem Treffen jedem Gast einen Zettel geben, auf dem steht, wer links und wer rechts von ihr oder ihm sitzt. Bei Chirotopen mit vielen Punkten kann es passieren, dass die Ortsangaben widersprüchlich sind und es nicht möglich ist, Punkte zu finden, die den Vorgaben des Chirotops entsprechen. Das würde sich dann darin äußern, dass die Sitzordnung im Café nicht aufgeht. Egal wie sehr sich alle bemühen, den richtigen Platz zu finden, am Ende gibt es immer mindestens eine oder einen, die oder der sich nicht an die Vorgaben auf dem Zettel halten kann. Herauszufinden, ob ein vorgegebenes Chirotop Widersprüche enthält, ist eine recht schwierige Aufgabe.
Grundlage eines Chirotops sind reelle Zahlen – also 0, 1, 2 und so weiter, aber auch -1 oder die Kreiszahl Pi (3,14159 …). In manchen Fällen reichen diese Zahlen aber nicht aus, weshalb wir damit begannen, die umfangreiche Theorie der Chirotope auf so genannte komplexe Zahlen zu übertragen. Eine komplexe Zahl erhält beispielsweise, wer die Gleichung x2 = -1 zu lösen versucht – die bis ins 16. Jahrhundert als unlösbar galt. Eine komplexe Zahl sieht zum Beispiel so aus: 3 + 2i. Das kleine „i“ heißt imaginäre Einheit und ist genau die Lösung unserer obigen Gleichung, das heißt: i2 = –1.
Auch die Zahl 5 - 0i ist eine komplexe Zahl, aber da 0 mal i wieder 0 ergibt, ist auch 5 eine komplexe Zahl. Anders ausgedrückt: Alle reellen Zahlen sind auch komplexe Zahlen. Die reellen Zahlen sind somit eine Teilmenge der komplexen Zahlen.
Komplexe Zahlen haben einige ungewöhnliche Eigenschaften. Zum Beispiel lassen sie sich nicht anordnen. Man kann also nicht sagen, welche von zwei komplexen Zahlen die größere ist. Möchte man Chirotope auf komplexe Zahlen übertragen, hat genau das weitreichende Konsequenzen. Mathematisch gesehen ist nämlich „links von Regina“ ein Größenvergleich und Größenvergleiche gibt es ja nun nicht mehr. Im Raum komplexer Zahlen müssen also andere Positionsangaben verwendet werden.
Die komplexen Chirotope, die so genannten „Phirotope“, enthalten also keine Information über links oder rechts, sondern die Angabe eines Winkels. Eine Ortsangabe in einem Phirotop kann so formuliert werden: „Von Ihnen aus gesehen beträgt der Winkel zwischen Hannah und Leo 60 Grad“. In einem Phirotop sind alle Winkelinformationen gespeichert, die eine konkrete Situation beschreiben – also auch: „Von Regina aus gesehen beträgt der Winkel zwischen Hannah und Leo 55 Grad“ und so weiter. Das hat zur Folge, dass sich ein Phirotop im Gegensatz zum Chirotop sehr wohl ändert, wenn Regina mit ihrem Stuhl ein Stück zurückrutscht. Und: Man kann leicht herausfinden, ob ein Phirotop realisierbar ist oder nicht.
Hierfür haben wir eine „Realisierbarkeits-Formel“ bewiesen, die genau das für jedes Phirotop schnell ausrechnet. Das heißt, für fast alle Phirotope. Denn weil jede reelle Zahl auch eine komplexe Zahl ist, gilt auch: Jedes Chirotop ist auch ein Phirotop. Es gibt also „normale“, nicht-chirotopale Phirotope und solche, die außerdem Chirotope sind, also chirotopale Phirotope.
Zur Veranschaulichung stellen Sie sich eine Gruppe Menschen vor, von denen ein paar Mathematiker und Mathematikerinnen sind. Auf den ersten Blick sieht man einem Menschen (Phirotop) nicht an, ob er oder sie ein Mathematiker oder eine Mathematikerin (Chirotop) ist. Von mir wissen Sie es ja, von Hannah und den anderen am Tisch aber nicht.
Wie bei einem Maskenball können Chirotope ihre wahre chirotopale Identität verschleiern und so tun, als wären sie ein nicht-chirotopales Phirotop. Um dieses Geheimnis für jedes Phirotop aufzudecken, entwickelten wir eine weitere Formel. Wenn wir nun auf ein uns unbekanntes Phirotop stoßen, lüften wir zunächst seinen Schleier und untersuchen, ob es sich in Wahrheit um ein Chirotop handelt. Abhängig vom Ergebnis dieser Untersuchung können wir dann prüfen, ob es realisierbar ist. Falls ein Chirotop vorliegt, wird es schwierig, die Realisierbarkeit zu entscheiden. Ist es ein nicht-chirotopales Phirotop, wenden wir einfach die Realisierbarkeits-Formel an und alles ist klar.
Dabei machten wir eine spannende Beobachtung: Wir fanden nämlich kein einziges Phirotop, das in einem offensichtlichen Widerspruch zu einem mathematischen Schließungssatz steht und deshalb unrealisierbar ist. Das sind Sätze wie etwa der so genannte Satz von Pappos: „Angenommen es liegen die drei Punkte (1, 2, 3), (4, 5, 6), (1, 5, X), (1 ,6 ,Y), (2, 4, X), (2, 6, Z), (3, 4, Y) und (3, 5, Z) jeweils auf einer Geraden. Dann liegen automatisch auch die Punkte (X, Y, Z) auf einer Geraden.“ Dass es kein Phirotop gibt, das im Widerspruch zu diesem Satz steht, ist sehr überraschend. Die nicht realisierbaren Chirotope, die dem Schließungssatz widersprechen, dienen seit jeher als Gegenbeispiele für Theorien und Vermutungen und sind eine Quelle der Inspiration, wenn man generelle Eigenschaften von Chirotopen untersuchen möchte. Viele spannende Effekte sieht man am klarsten an diesen nicht realisierbaren Chirotopen. Wenn unsere Vermutung stimmt, dann gibt es keine nicht-chirotopalen Phirotope, die einem Schließungssatz widersprechen.
Von den unzähligen Phirotopen sind also die meisten leicht zu bearbeiten. Nur die Chirotope zeigen sich widerspenstig. Warum das so ist und wie die beiden Welten genau zusammenhängen, bleibt vorerst noch ein Geheimnis der mathematischen Grundlagenforschung.
Und wofür ist das alles gut? Darauf könnte man mit der Geschichte des Zahlentheoretikers Godfrey Harold Hardy (1877 – 1947) antworten, der immer sehr darauf bedacht war, seine Forschung ohne jeglichen Anwendungsbezug zu betreiben. Er wollte die „reine Mathematik“ betreiben, die möglichst niemals Verwendung finden würde.
Doch heute, gut siebzig Jahre nach seinem Tod, gehören auch seine Methoden zu den Werkzeugen der Populationsgenetiker und Kryptologen, die neue Verschlüsselungsverfahren für den sicheren Datentransfer entwickeln. Astrophysiker verwenden Phirotope bei ihren Gedankenexperimenten zur Schleifenquantengravitation – einem Gegenentwurf zur Stringtheorie. Wem das zu esoterisch scheint, es geht auch alltagsnäher: Chirotope beschreiben auch, ob die Milchsäuremoleküle in Ihrem Cappuccino links- oder rechtsdrehend sind.
Absolut klar und völlig unverständlich
Das Dilemma der Mathematik
„Es sei K ein algebraisch abgeschlossener Körper.“ So oder so ähnlich lautet ein typischer erster Satz einer mathematischen Publikation. Wer weiß, was ein „Körper“ ist und wann dieser als „algebraisch abgeschlossen“ gilt, kann weiterlesen. Jemand, der das nicht weiß, kann die Definition nachschlagen, in der ein Begriff auf noch elementarere Begriffe zurückgeführt wird. Missverständnisse sind ausgeschlossen.
Andererseits scheint Verständnis kaum möglich zu sein. Wer den ersten Satz nicht versteht, braucht gar nicht weiterzulesen, denn in den nächsten Sätzen wird vorausgesetzt, dass man mit den eben genannten Begriffen vertraut ist.
Verrückt! Die mathematische Sprache, die ein Musterbeispiel an Klarheit ist, in der Fehldeutungen unmöglich sind, in der man genau weiß, wovon man spricht – gerade diese Sprache verhindert den meisten Menschen einen Zugang.
Warum ist das so?
Erstens: Es bleibt nicht beim ersten Satz. Im zweiten Satz wird das Gebiet weiter spezifiziert, und so weiter. Am Ende des ersten Abschnitts bleiben nur noch die Leser übrig, die in dem Spezialgebiet zu Hause sind.
Zweitens: Die Methode, auf die wir Mathematiker so stolz sind – dass sich nämlich alles aus einfachsten Anfängen (den „Axiomen“) auf systematische Weise durch logisches Argumentieren ergibt – diese Methode entspricht nur sehr entfernt den tatsächlichen Denkprozessen. Wir denken assoziativ und sprunghaft – und wollen möglichst schnell zum Wesentlichen kommen.
Drittens: Keine Bilder oder falsche Bilder: Wenn in einer mathematischen Arbeit von einem „Ring“ oder „dem Geschlecht“ von Kurven zu lesen ist, dann entspricht das definitiv nicht dem, was sich der Laie darunter vorstellt.
Was tun? Kurz gesagt: Man muss versuchen, das Abstrakte wieder konkret werden zu lassen. Das könnte geschehen durch Erzählen, durch (reale und mentale) Bilder oder durch konkrete Anwendungen und Experimente.
Von Albrecht Beutelspacher