Marcel Mohr
©Carsten Büll

Mathematik Berechenbarer Krebs

Was nach der Diagnose „Krebs“ folgt, ist von vielen Faktoren abhängig. Wenn es um den weiteren Verlauf der Erkrankung geht, kann Mathematik helfen. Marcel Mohr erforscht, wie sich durch ihre Anwendung in der Medizin völlig neue Möglichkeiten eröffnen – mit unmittelbaren Vorteilen für Patienten.

von Dr. Marcel Mohr

Herr H. (55) ist auf dem Weg ins Universitätsklinikum Heidelberg. Vor einem Jahr wurde bei ihm ein Asymptomatisches Multiples Myelom diagnostiziert – eine Krebserkrankung des blutbildenden Systems, die keine Symptome zeigt. Dementsprechend gut geht es auch Herrn H. Doch muss er stets mit der Angst leben, dass sich das plötzlich ändert. Treten erst einmal Symptome auf, ist eine Behandlung der Erkrankung – dann Multiples Myelom genannt – mit einer Chemotherapie meist unumgänglich. Und deren langfristiger Erfolg ist kaum vorhersehbar. Herr H. ist verunsichert. Auch seine Ärztin würde sich eine präzisere Prognose wünschen, um bessere Therapien anzubieten, die im besten Fall das Fortschreiten zum Multiplen Myelom verhindern.

Derzeit wird eine Therapie in der Regel erst dann eingeleitet, wenn sich erste Symptome zeigen. Eine entscheidende Frage ist, inwiefern sich das Risiko für den Ausbruch der Krankheit berechnen lässt. Für ihre Beantwortung muss man die zeitliche Entwicklung der Tumormasse, also ihre Dynamik, verstehen.

Um das Ausmaß der Erkrankung von Herrn H. abschätzen zu können, nimmt seine Ärztin ihm regelmäßig Blut ab und untersucht dieses auf erhöhte Antikörperwerte. Antikörper stellen einen wesentlichen Bestandteil des Immunsystems dar. Sie zirkulieren im Körper, erkennen und binden Viren oder Bakterien, die dann von Zellen des Immunsystems eliminiert werden. Die Gefahr steckt jedoch nicht in den Antikörpern selbst, sondern vielmehr in den Zellen, von denen diese produziert werden. Diese Zellen heißen Plasmazellen und befinden sich im Knochenmark, wo sie in den „Nischen“ vor allem eines produzieren: Antikörper. Bei diesen ­Nischen handelt es sich um spezielle „Ökosysteme“ im Knochenmark, die das Überleben der Plasmazellen garantieren.

Plasmazellen im Knochenmark produzieren in den sogenannten "Nischen" vor allem eins: Antikörper.

Marcel Mohr

Bei Herrn H. befinden sich im ­Knochenmark aber neben den gesunden Plasmazellen auch maligne, also ­bösartige Plasmazellen. Diese unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht von ihren gesunden Pendants: Zum einen können sich maligne Plasmazellen teilen. Das heißt, eine maligne Plasmazelle kann eine immense Anzahl an gleichartigen Tochterzellen generieren – die Anzahl gesunder Plasmazellen bleibt dagegen im Verlauf eines Menschenlebens in etwa konstant. Zum anderen produzieren maligne Plasmazellen funktionslose Antikörper, die man im Blut nachweisen kann. Ihre Anzahl ist ein wichtiger Indikator, der auf die Zahl der malignen Plasmazellen im Knochenmark schließen lässt.

Fatalerweise verdrängen die malignen Plasmazellen die gesunden von ihren überlebenswichtigen Nischenplätzen im Knochenmark. Sie verursachen aber auch an anderen Stellen Schäden, beispielsweise im blutbildenden System, was zu Blutarmut führen kann. Auch können sie die Knochensubstanz schädigen. Dies sind typische Symptome des Multiplen Myeloms.

Querschnitt mit Sicht auf Knochenmark und Tumorherd
©Mario Mensch
Im roten Knochenmark wird der größte Teil unseres Bluts gebildet. Dazu gehören auch die Plasamzellen, die beim Kontakt mit einem Erreger Antikörper produzieren, die diesen zerstören (oben). Bei dem Multiplen Myelom handelt es sich um eine Krebsform, die diese Blutbildung stört, indem sie krankhaft veränderte Plasmazellen im Übermaß erzeugt. Sie reichern sich im Knochenmark an, behindern die normale Blut- und Antikörperbildung und führen zur Auflösung des Knochens. Zudem produzieren sie veränderte Antikörper, was zur Folge hat, dass im Verlauf auch die Nieren geschädigt werden (unten).

Die erhöhten Antikörperwerte im Blut von Herrn H. weisen darauf hin, dass sich im Knochenmark bereits maligne Plasmazellen befinden. Ihre Zahl ist aber noch zu gering, als dass sie seinem Körper schaden können. Nun aber zeigt der aktuelle Blutwert einen leichten Anstieg der Antikörper, also eine Erhöhung der Anzahl maligner Plasmazellen durch Zellteilung. Herr H. fragt sich, wie schnell diese Zellteilung wohl in seinem Körper geschehen mag und ob er in naher Zukunft mit Symptomen und damit einer Chemotherapie rechnen muss.

Um diese Frage besser beantworten zu können, habe ich mithilfe eines mathematischen Modells – des „exponentiellen Wachstumsmodells“ – die zeitliche Entwicklung der Anzahl maligner Plasmazellen beschrieben. Es basiert auf der Annahme, dass sich die Zahl der Zellen von Herrn H. proportional zum aktuellen Zellbestand entwickelt.

Der Vorteil dieses Modells ist: Es gibt lediglich einen Parameter, nämlich die Wachstumsrate der malignen Zellpopulation. Ist diese Rate bekannt, so lässt sich die zeitliche Entwicklung maligner Zellen abschätzen. Insbesondere lässt sich damit eine sehr anschauliche Größe berechnen, nämlich die Verdopplungszeit. Sie gibt diejenige Zeit an, die für eine Verdopplung der Anzahl maligner Plasmazellen notwendig ist. Um die Verdopplungszeit der malignen Plasmazellen im Knochenmark von Herrn H. zu berechnen, muss der Wert der Wachstumsrate derart bestimmt werden, dass das Modell am besten die tatsächliche, mithilfe der Blutprobe von Herrn H. bestimmte Zell­anzahl widerspiegelt. Ein Verfahren der mathematischen Optimierung, auch Parameterschätzung genannt, ermöglicht schließlich die Bestimmung des unbekannten Wertes. Damit lässt sich nun die zukünftige Entwicklung der malignen Zellzahl im Knochenmark von Herrn H. prognostizieren.

Hier zeigt sich die Stärke der Symbiose von Mathematik und Biologie, denn vergleichbare Erkenntnisse hätten durch biologische Experimente alleine nicht gewonnen werden können.

Marcel Mohr

Mithilfe des exponentiellen Modells konnte ich auf der Basis der Daten von über 500 Patienten – darunter auch Herr H. – die Verdopplungszeiten der malignen Plasmazellen bestimmen. So war es möglich, die Patienten in vier Gruppen unterschiedlicher Verdopplungszeiten zu kategorisieren, die von „sehr langsames Wachstum“ (mit Verdopplungszeiten von mehr als 16 Jahren) bis zu „sehr schnelles Wachstum“ (mit Verdopplungszeiten zwischen null und zwei Jahren) reichen. Da für jeden Patienten – im Unterschied zu Herrn H. – außerdem bekannt war, ob dieser innerhalb einer bestimmten Zeitspanne Symptome entwickelte, konnten diese Gruppen mit unterschiedlichen Progressionswahrscheinlichkeiten assoziiert werden. Vereinfacht ausgedrückt: Die Verdopplungszeit ermöglicht es, das Risiko des Fortschreitens zum Multiplen Myelom anzugeben. Zwar wird sie aktuell noch nicht als klinischer Parameter herangezogen, bietet aber das Potenzial, die offiziellen Diagnosekriterien des Multiplen Myeloms um eine leicht zu ermittelnde Größe zu erweitern.

Herr H. ist erleichtert. Die Auswertung der Verdopplungszeit ergab, dass seine Krebszellen sehr langsam wachsen. Würden sie sehr schnell wachsen, wäre er vermutlich spätestens in fünf Jahren ein symptomatischer Patient. Eine vorzeitige Therapie könnte in diesem Fall das Fortschreiten zum Multiplen Myelom zumindest verlangsamen. Bei der derzeitigen Verdopplungszeit liegt sein Risiko, in den nächsten Jahren Symptome zu entwickeln, jedoch lediglich bei 20 Prozent. Sowohl Herr H. als auch seine Ärztin können optimistisch in die Zukunft blicken.

Marcel Mohr bei seiner Forschungsarbeit
©Carsten Büll
Zur Übersicht: Marcel Mohr rechnet bei seiner Forschungsarbeit gerne mal an der Tafel.

Ein mathematisches Modell ist stets eine Vereinfachung der Realität. Fußt ein Modell auf vielen Annahmen, wird es schnell zu komplex und damit nicht handhabbar. Werden hingegen nur wenige oder unspezifische Annahmen getroffen, weicht es zu sehr von der Realität ab. Das exponentielle Modell ist eines der einfachsten Wachstumsmodelle. Doch ist das Wachstum der malignen Plasmazellen wirklich exponentiell? Kritik ist insofern gerechtfertigt, als dieses Modell weder Wechselwirkungen bösartiger mit gesunden Plasmazellen noch die Eigenschaften der Nische – jenes Ökosystems der Plasmazellen, welches deren Überleben garantiert – berücksichtigt.

Ich habe im Rahmen meiner Disser­tation unter der Betreuung von Anna ­Marciniak-Czochra (siehe Interview) und in Zusammenarbeit mit den Medizinern Dirk Hose und Anja Seckinger vom Labor für Myelomforschung des Universitäts­klinikums Heidelberg Wachstumsmodelle entwickelt, die genau diese Bestandteile mitberücksichtigen und komplexer als das exponentielle Modell sind.

Bilder von verändertem Plasma
©Carsten Büll
Veranschaulichte Darstellung der Bildung von veränderten Plasmazellen.

­Eine Überprüfung der Modelle mit realen Patientendaten und mithilfe des Computers ergab, dass sie die zeitliche Änderung der Zellanzahl sehr genau beschreiben. So konnten wir das Wachstum maligner Plasmazellerkrankungen quantitativ beschreiben und sogar den Beginn der malignen Zellentwicklung rekonstruieren – einen Zeitpunkt, an dem Herr H. noch nicht daran dachte, ins Krankenhaus zu gehen.

Hier zeigt sich die Stärke der ­Symbiose von Mathematik und Biologie, denn vergleichbare Erkenntnisse ­hätten durch biologische Experimente allein nicht gewonnen werden können. Das Wissen über die Entstehung und Entwicklung bösartiger Erkrankungen macht selbige nicht nur berechenbar, sondern weist auch den Weg für neue, patientenspezifische Therapieansätze.

Hintergrund

„Wir müssen eine neue Mathematik entwickeln“

Ein Gespräch mit Anna Marciniak-Czochra, die mit ihren Rechenmodellen Ärzten bei der Therapie von Krebspatienten helfen will.

Die Kombination von Mathematik und Krebsforschung wirkt überraschend: Wie passt beides zusammen?

Mathematische Modelle helfen uns, biologische Prozesse besser zu verstehen. Wir haben es hier mit komplexen Problemen zu tun: Zellentwicklung zum Beispiel ist kein linearer Prozess, viele Faktoren und Dimensionen spielen hier eine Rolle. Wenn Forscher Daten aus biologischen Experimenten interpretieren sollen, erfolgt dies zunächst intuitiv – unsere Intuition arbeitet jedoch linear. Damit vereinfachen wir die Interpretation stark, und das Ergebnis ist nicht immer zutreffend.

Können Sie ein Beispiel aus Ihrer ­Arbeit nennen?

Wir modellieren seit über zehn Jahren verschiedene Leukämien. Das geschieht in enger Kooperation mit dem Univer­sitätsklinikum Heidelberg und auf der Basis individueller Patienten­daten. Zu Beginn studierten wir die Entwicklung gesunder Stammzellen, in­zwischen modellieren wir die Störung dieses Pro­zesses durch verschiedene Mutationen.

Und warum gerade Leukämien?

Leukämien sind Krebserkrankungen, deren jeweiliger Verlauf quantitativ gut erfasst werden kann – beispielsweise, indem man die Anzahl der verschiedenen Blut­körperchen bei jeder Blutuntersuchung ermittelt. Deshalb eignen sie sich be­sonders gut für die mathematische Modellierung.

Was machen Sie dann mit diesem ­Modell?

Wir können mittlerweile die tatsächlichen Krankheitsverläufe bei Patienten nachzeichnen. Der nächste Schritt wäre nun, auf der Basis dieser Daten einen individuellen Rückfallzeitpunkt vorherzusagen. So könnten wir den Ärzten bestimmte Zeitabstände empfehlen, in denen ein bestimmter Patient erneut untersucht werden sollte.

Bislang geben Sie aber noch keine Behandlungsempfehlungen.

Nein, aber unsere Modelle in der Hämatologie sind schon derart gut entwickelt, dass es in wenigen Jahren so weit sein wird. In den USA spielt die Optimierung der Krebsbehandlung durch mathematische Modelle bereits jetzt eine wichtige Rolle. Ich möchte hier jedoch einem Missverständnis vorbeugen: Diese Modelle können die ärztliche Entscheidung natürlich nicht ersetzen, sie können Ärzten aber dabei helfen, möglichst gute Entscheidungen zu treffen.

Wo liegt die Herausforderung bei der Erstellung dieser Modelle?

Für solche medizinischen Fragen müssen wir ein Stück weit eine neue Mathematik entwickeln – das ist eine große Herausforderung, macht diese Arbeit aber auch so interessant. Mein eigener Schwerpunkt ist ja die Analysis, für diese Fragen arbeiten wir auch mit Statistikern zusammen und mit Arbeitsgruppen für Numerische Mathematik. Darüber hinaus gibt es noch weitere Kooperationen mit anderen Feldern der Mathematik. Und natürlich auch mit den Biologen und Medizinern. Ich sage meinen Studenten immer: Es ist nicht gut, wenn ihr allzu spezialisiert seid!

von Susanne Dambeck

Doktormutter von Marcel Mohr
©Uni Heidelberg
Anna Marciniak-Czochra ist Professorin am Instiut für angewandte Mathematik der Universität Heidelberg.
Marcel Mohr
©Carsten Büll
Sie betreute die Doktorarbeit von Marcel Mohr.
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